Rücksichtslos

Rücksichtslos

Michael Postzich

Es gibt kaum eine menschliche Eigenschaft, die so unmittelbare und weitreichende Auswirkungen im Alltag hat, wie es Mitgefühl und Empathie haben. Das geht weit über die Pflege hinaus, in die öffentliche Diskussion, die Politik und die Institutionen. Manche sagen, dass sich eine Schere in der Gesellschaft auftut, die von ebenso großer gesellschaftspolitischer Bedeutung sei wie die zwischen Arm und Reich.

In diesem Prozess mehrt sich die Gruppe der Rücksichtslosen und Egoisten und macht die Kluft zu den hilfsbereiten, respektvollen und mitfühlenden Bürgerinnen und Bürgern immer größer.

Das lässt sich in den alltäglichen Rücksichtslosigkeiten im Straßenverkehr beobachten - und dort nicht nur bei der Behinderung und Bedrohung von Rettungskräften, die das Fotografieren von Unfallopfern verhindern wollen.

Ebenso bekommen Menschen in den sozialen Medien viel Anteilnahme, aber auf der anderen Seite sind Hasskommentare und „shitstorms“ an der Tagesordnung.

Menschen in Deutschland machen sich zunehmend Sorgen über das gesellschaftliche Klima, in dem sich, so Befragungen, zunehmende Rücksichtslosigkeit und schwindende Hilfsbereitschaft breitmachen. Das betrifft schon Jugendliche. “In unserer Gesellschaft wird rücksichtsvoll miteinander umgegangen”: 63 % stimmen dieser Aussage nicht oder eher nicht zu.

Jeden Tag sind es vor allem die Meldungen über Rettungskräfte, die behindert werden bei ihren Einsätzen - oder manchmal sogar bedroht. Zum einen scheint sich unsere Gesellschaft zu emotionalisieren, denn es gibt immer mehr Wutbürger und die sozialen Medien sind voll mit Hasskommentaren. 

Auf der anderen Seite hat uns wohl das Mitgefühl verlassen - wie die perlenden Bläschen den abgestandenen Sekt. 

„Worin liegen die Gründe für die vermehrten Angriffe auf Rettungskräfte?“, fragte im WDR eine Reporterin Uwe Bogdan, den Feuerwehrchef von Essen. Er antwortete: „Das liegt an einer fortschreitenden Verrohung in unserer Gesellschaft.“ 

Auch offenbart sich in den sozialen Medien und seinen Foren eine enorme Ruppigkeit, Gefühllosigkeit, Feindlichkeit und Aggression, die offenbar immer mehr zunimmt. 

Mitgefühl und Empathie und die sozialen Medien

Soziale Medien sowie die Medien, die Online-Foren betreiben, sind wichtige Teile der öffentlichen Kommunikation. Und kaum irgendwo anders wird Mitgefühl so greifbar und dingfest wie hier, wo es fast spontane Reaktionen auf weltweite Katastrophen, lokale Unfälle und persönliches Unglück zuhauf gibt. Es sind geradezu Paradebeispiele aufzeigbar für die Kommunikation von Rührung, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Altruismus und Sympathie.

Auf der anderen Seite offenbart sich in den Medien und seinen Foren eine enorme Ruppigkeit, Gefühllosigkeit, Feindlichkeit und Aggression, die offenbar immer mehr zunimmt. Es ist kaum zu glauben, aber einige Medien schließen inzwischen ihre Foren. Als Beispiel für viele mag hier die „Deutsche Welle“ stehen, die ihre Kommentarfunktion geschlossen hat.

„Hass, Beleidigungen, Drohungen. Daraus hätten die meisten Kommentare unter den Artikeln der Deutschen Welle (DW) bestanden...

Der Diskurs sei geprägt worden von „persönlichen Beschimpfungen, Beleidigungen und rassistischen Äußerungen, die auf unserer Seite nichts zu suchen haben“, begründete Pohl den Schritt.“ 

Woran liegt das? Die Verrohung der Diskussionskultur liege an einem Gefühl der Bedrohung und der Bemühung, die Kontrolle wiederzugewinnen, sagt der Sozialpsychologe Frank Asbrock. Wenn das stimmt, dann hat sich eine Angstkultur breitgemacht, die tendenziell in Hass und Aggression mündet und stärker ist als das Mitgefühl. Es mündet in der Forderung, das als bedrohlich Wahrgenommene auszugrenzen. Aber Ausgrenzung löse kein Problem, meint Asbrock.

Die große Sorge der Mittelschicht: Rücksichtslosigkeit greift um sich

Die allgemeine Abnahme des Mitgefühls und die Zunahme der Rücksichtslosigkeit gehören auch zu den großen Ängsten der Deutschen.

2018 veröffentlichte das Institut für Demoskopie in Allensbach eine repräsentative Umfrage im Auftrag von Versicherungsunternehmen über die Sorgen und Ängste der Deutschen, die im mittleren Alter sind. Unter dem Titel „Generation Mitte 2018“ war zu erfahren, dass diese Generation sich vor allem über das gesellschaftliche Klima Sorgen macht, in dem, nach Wahrnehmung der Befragten, sich zunehmende Rücksichtslosigkeit und schwindende Hilfsbereitschaft breitmachen. Das bestätigte sich auch 2019 und 2020.

„Aggressivität und Egoismus, immer weniger Respekt und auch eine wachsende Fremdenfeindlichkeit bereiten der mittleren Generation Sorgen“, sagte die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Renate Köcher, bei der Vorstellung der Studie am Donnerstag in Berlin. Vier von fünf Befragten (81 Prozent) konstatieren eine zunehmende Aggressivität im gesellschaftlichen Umgang.

Konkret erleben 90 Prozent der #GenerationMitte diese Aggressivität im Straßenverkehr. Mit rücksichtslosem und aggressivem Verhalten sehen sich zudem viele Befragte auf öffentlichen Plätzen  und in öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch im Internet  konfrontiert. Rund 70 Prozent klagen über zunehmende Aggressivität und Ungeduld, gut die Hälfte beklagt wachsenden Egoismus. Eine zunehmende Hilfsbereitschaft erkennen demgegenüber nur 13 Prozent der Befragten.

Den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern ist eine wichtige politische Aufgabe. Das geht aber nur mit Bildung, in der soziale Verantwortung, Kooperationsbereitschaft und die Würde aller Menschen immer wieder zur Sprache gebracht werden. Mitgefühl ist eine biologische Grundausstattung des Menschen, soviel ist wissenschaftlich inzwischen belegt. Auch wenn dieses Mitgefühl wohl manchmal verlernt wurde, kann man es doch - wieder - lernen.